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In
der französischen Stadt Tulle trug sich im Juni 1944 etwas zu, was die
deutschen Besatzer ziemlich aus der Fassung brachte. Nachdem die Botschaft
von der Landung der Alliierten publik geworden war, hatte eine stark
bewaffnete Einheit der französischen Widerstandsbewegung die Stadt
angegriffen. In harten Gefechten mit den deutschen Truppen war es ihr
gelungen, Tulle zu befreien und zudem Teile eines deutschen
Sicherungsregiments in der Munitionsfabrik der Stadt einzuschließen. Darauf
ließ der Kommandeur der 2. SS-Panzerdivision "Das Reich",
Brigadeführer Heinz Lammerding, am 8. Juni 1944 die Panzeraufklärungsabteilung
und die Führungsstaffel des Stabes von Brive nach Tulle abdrehen. Die
eingeschlossenen sollten entsetzt, die Schmach gesühnt werden.
Als die Panzerkolonne der Waffen-SS in Tulle eindringt, sehen sich die
Widerstandskämpfer angesichts der Übermacht des Feindes gezwungen, sich
wieder zurückzuziehen. So gelingt es den Deutschen, die Stadt zurückzuerobern.
Und nun basteln Verantwortliche eine Legende zusammen, die ganz im Sinne
einer Lammerdingschen Denkschrift vom 5. Juni 1944 ist, in der Lammerding
Weisung gibt, französische Widerstandskämpfer zu kommunistischen
Unruhestiftern zu diskriminieren, um einen Keil zwischen der französischen
Bevölkerung und der Widerstandsbewegung zu treiben. Des weiteren, so
Lammerding, solle man zur Abschreckung für jeden im Kampf gefallenen
Deutschen zehn Franzosen aufhängen.
Der erste Generalstabsoffizier der Lammerding-Division "Das
Reich", SS-Sturmbannführer Stückler, konstatiert, dass das in der
Munitionsfabrik eingeschlossene Bataillon "Ziemliche Verluste"
erlitten und kaum noch Munition gehabt habe. (die Angaben über die auf
deutscher Seite Gefallenen schwanken zwischen 40 und 64.) Und vor allem: Die
deutschen Soldaten seien nicht im Kampf getötet, sondern von
kommunistischen Partisanen sämtlich bestialisch ermordet worden.
Je größer die Lüge, um so glaubwürdiger. Dieses Credo aller deutschen
Propaganda, von Goebbels persönlich geprägt, kommt auch hier zum Zuge,
scheitert aber an der Unerbittlichkeit allzu offensichtlicher Tatsachen.
Denn mit der Version des Stabes der Lammerdingschen Division lässt sich
nicht vereinbaren, dass der SS-Truppe bei Einnahme der Stadt 30 verwundete
deutsche Soldaten übergeben wurden, die von französischen Ärzten in einem
französischen Hospital versorgt worden waren.
Dennoch sind die SS-Führer entschlossen, die der "deutschen Fahne
angetane Beleidigung" zu sühnen. "Die Stadt wird niedergebrannt.
Dreitausend Mann werden erschossen", droht der Abwehrchef der Division,
Kowatsch, den französischen Präfekten an. Und bald machen SS-Leute Jagd
auf männliche Einwohner der Stadt, vorwiegend auf solche, die im wehrfähigen
Alter sind. In den Räumen der Munitionsfabrik werden die Gefangenen
zusammengetrieben, es sind etwa 3.000 an der Zahl. Aber nicht alle sollen
sterben. SS-Hauptsturmführer Kowatsch wird die Todeskandidaten selbst auswählen,
assistiert von dem SD-Mann Walter Schmald.
Sadi Schneid, ein Augenzeuge des Geschehens, sagte später vor einem französischen
Gericht aus: Freigelassen wurden, "damit das Leben weitergeht", Ärzte,
Apotheker, die Angestellten der Präfektur, Elektriker, Wasserwerker,
Gaswerker, Lebensmittelhändler und die Angestellten der
Beerdigungsinstitute. Als letztere aufgerufen werden, sei Kowatsch in
widerliches Gelächter ausgebrochen und habe gerufen: "Ja, ja die
Angestellten der Beerdigungsinstitute, kommt, kommt, es gibt Arbeit."
Bevor zu Tat geschritten wird, drapiert man die geplante Mordaktion noch mit
einem Hauch von Legalität. Der höchste Richter der Division, Detlef Okrent,
wird bemüht, um unter Berufung auf Befehl der Wehrmachtsführung zur
"Bandenbekämpfung" die bevorstehende Exekution "für
rechtens" zu erklären.
Den Rest werden Freiwillige des Pionierzuges besorgen, aus denen Kowatsch
nicht zufällig das Hinrichtungskommando zusammengestellt hat. Denn die zu
Henkern Bestimmten sind mit den Erfahrungen von der Ostfront ausgestattet.
Der Zeuge Schneid: "Die Männer kannten die Musik - es waren Alte aus
Russland".
Am
Nachmittag des 9. Juni 1944 bestimmen schwerbewaffnete SS-Männer in Tarnanzügen
das Straßenbild des zentralen Platzes von Tulle. Sie haben den Markt, aber
auch die angrenzenden Strassen abgeriegelt. Hunderte der Einwohner des Städtchens
sind gezwungen, hier auszuharren, um Zeuge eines perfiden Schauspiels zu
werden. Sie müssen zusehen, wie die Henker fachmännisch Stricke zu
Schlingen knüpfen und sie an Laternenpfählen, Balkongittern, Bäumen und
Telefonmasten befestigen. Unterhalb der Stricke stellen die SS-Männer
Hocker und Stühle auf, die sie aus den umliegenden Häusern zusammengeraubt
haben. Väter werden nun zeuge, wie man ihre gefesselten Söhne zum Galgen
treibt. Auf ein Zeichen von Kowatsch werden jeweils zehn der Opfer aus der
Munitionsfabrik zugeführt und gezwungen, auf die bereitstehenden Stühle zu
steigen. Sobald die Schlingen um den Hals der Unglückseligen gelegt sind,
treten die SS-Leute die Stühle beiseite.
Während die Opfer in den Tod stürzen, sorgt eine SS-Meute vor der "Tivoli"-Bar
für Jahrmarktstimmung. Aus einem Grammophon kreischen Schlagermelodien, die
den Schrei so manchen Opfers übertönen. Ab und an schallt auch das
alberne, widerwärtige Lachen der deutschen Dolmetscherin von der
Munitionsfabrik über den Platz.
99 Franzosen sterben an jenem Nachmittag an den Galgen der 2.
SS-Panzerdivision "das Reich". Der jüngste unter ihnen ist der
siebzehnjährige Lehrling Viellefond, der älteste der 45jährige Fahrradhändler
Maury. Die Mörder lassen sich nach getaner arbeit mit den erhängten Opfern
fotografieren, zur Erinnerung.
Mehr als 100 Bürger der Stadt wurden in das KZ Dachau verschleppt, von wo
sie niemals mehr zurückkehrten.
Während
die SS-Männer in Tulle noch damit beschäftigt waren, die Schlingen an
Laternen und Baumästen zu knüpfen, stieß das III. Bataillon des
SS-Panzergrenadierregiments 4 "Der Führer" - zugehörig zur 2.
SS-Panzerdivision unter Lammerding - auf Guéret vor. SS-Sturmbannführer
Kämpfe, der Kommandeur, hatte Order erhalten, die in jener Stadt von
Widerstandskämpfern eingeschlossene Garnison zu befreien. Auf den Marsch
ereignete sich ein Zwischenfall, der in der nachträglichen
Selbstdarstellung des Regiments "Der Führer" so nachgezeichnet
wird: Der Panzerkolonne Kämpfes seien ein oder zwei Lastkraftwagen mit
bewaffneten Franzosen entgegengekommen, die das Bataillon angegriffen hätten.
Daraufhin habe man das Feuer "aus allen Rohren" erwiedert, aber
erst dann tragischerweise bemerkt, dass sich in den Fahrzeugen
gefangengenommene deutsche Offiziere und Stabshelferinnen befanden. Ein bis
zwei Deutsche seien bei dem Feuergefecht getötet, eine in deutschen
Diensten stehende Französin schwer verletzt worden.
Was dieser Bericht verschweigt, ist, dass Kämpfe bei diesem Intermezzo 29
Partisanen in die Hände gefallen waren, die zu vogelfreie Banditen erklärt
und vor Ort niedergemetzelt worden waren.
Indes setzte die Truppe ihren Marsch nach Guéret fort. Als Kämpfe und
seine Panzer dort eintraf, hatte sich ihre Mission bereits erledigt. Die
Stadt war schon wieder in der Hand der deutschen Besatzer, so dass man nach
kurzem Zwischenaufenthalt Kurs auf St. Léonard nahm, von wo man ursprünglich
aufgebrochen war.
Auf dem Rückweg des III. Bataillons ereignete sich etwas, das für das
Schicksal der französischen Stadt Oradour-sur-Glane gravierend sein sollte.
SS-Sturmbannführer Kämpfe überholte ohne jeden Begleitschutz mit seinem
"Talbot" die Panzerkolonne und fuhr mit hoher Geschwindigkeit
voraus. Es war das letzte mal, dass Kämpfe von seinen Untergebenen gesehen
worden war. Minuten später entdeckte der nachfolgende Trupp das leere
Kommandeursfahrzeug mit laufendem Motor am Straßenrand. Die Kolonne wurde
gestoppt, man nahm die Suche nach dem Bataillonschef auf. Die stundenlange
Fahndung blieb ohne Erfolg, von Kämpfe fand sich keine Spur mehr.
Man vermutete, dass Kämpfe von Widerstandskämpfern entführt wurde und
wollte dafür Rache.
Als erste Vergeltung wurden zwei französische Bauern erschossen, deren Gehöft
sich zufällig in der Nähe des von Kämpfe verlassenen Wagens befand. Den
beiden Unglücklichen wurde nicht einmal unterstellt, zu dem Verschwinden
des Bataillonskommandeurs in irgendeiner Beziehung zu stehen.
Die Rache größerer Dimension, das Blutbad von Oradour, sollte am folgenden
Tage stattfinden.
Am
9. Juni 1944 traf die 3. Kompanie des I Bataillons (Bataillonskommandeur: SS-Sturmbannführer
Diekmann) des Panzergrenadierregiments 4 "Der Führer" der 2. Panzerdivision "Das Reich" in St. Junien ein. Für
den 10. Juni war eine Marschpause angekündigt worden. Doch bereits am
Vormittag des vermeintlichen Ruhetages wurde der Kompaniechef Otto Kahn und
dessen Zugführer überraschend zum Bataillonskommandeur befohlen. Diekmann
empfing die Offiziere der 3. Kompanie im Bahnhofshotel von St. Junien, wo er
sich einquartiert hatte. Nachdem die Offiziere Platz genommen hatten,
ordnete der Bataillonskommandeur an, unverzüglich die Marschbereitschaft
der 3. Kompanie herzustellen. Mittag habe sie nach Oradour-sur-Glane anzurücken,
den Ort niederzubrennen und ohne Ausnahme alle Personen, vom Säugling bis
zum Greis, zu vernichten.
Der Kompaniechef der 3. Kompanie, Otto Kahn, sagte nach dem Krieg in einem
Dortmunder Gerichtsverfahren aus: "Diekmann eröffnete mir, dass als
Befehl die Niederbrennung und Vernichtung des Dorfes Oradour eingegangen
sei, was ich auszuführen hätte." (Staatsanwaltschaft Dortmund,
Aktenzeichen 45 Js 2/62)
Der Ort Oradour-sur-Glane wurde dann im laufe des Nachmittags des 10. Juni
abgebrannt und sämtliche Einwohner getötet, nur wenigen gelang die Flucht.
Insgesamt wurden 642 Männer, Frauen, Greise, Kinder, ja sogar Babys
erschossen, durch Handgranaten zerfetzt oder bei lebendigen Leib verbrannt.
Eine ganze Ortschaft wurde ausgelöscht (bitte hier
lesen).
Interessant
zu dem Fall Tulle ist, das
Divisionskommandeur Heinz Lammerding Jahre nach dem Krieg höchstpersönlich
ein Verfahren gegen sich selbst angestrebt hatte, dass ihn rein von
jeglicher Schuld waschen sollte, um gegen angebliche Verleumder gerichtlich
vorgehen zu können:
In der TAT schrieb Herr Sterzenbach 1965, dass Lammerding wegen zahlreicher
Geiselmorde in Frankreich zum Tode verurteilt worden war (in Abwesenheit).
Lammerdingt fühlte sich in seiner Ehre verletzt und reichte eine
Beleidigungsklage gegen Sterzenbach und die TAT ein. Er wollte durch Urteil
bestätigt haben, dass er nicht wegen Geiselmord, sondern "nur"
wegen der Hinrichtung von Partisanen verurteilt worden sei.
Am 9. November 1965 wurde vor der 10. Zivilkammer des Düsseldorfer
Landgerichts das Verfahren eröffnet. Doch Landgerichtsdirektor Dr. Niemeyer,
der den Prozess führte, hatte sich präzise Kenntnisse über das Verbrechen
von Tulle verschafft: "Es ist nicht mehr daran zu rütteln, dass damals
ein ruchloser, jedem Recht und Gesetz Hohn sprechender Massenmord vollführt
wurde.", sagte Niemeyer.
Der Prozess wurde danach vertagt. Das entgültige Urteil erging am 18.
Januar 1966: Die TAT brauchte ihre Feststellung nicht zu widerrufen, wonach
Lammerding in Frankreich wegen Geiselmorde zum Tode verurteilt worden sei.
Der Ausdruck "Geiselmord" sei also in diesem Falle nicht zu
beanstanden.
Lammerdings Zivilklage war ein Eigentor!
Entsprechende
Akten zu diesem Lammerding-Prozess kann man hier einsehen: antifaschistischen
Pressearchiv und Bildungszentrum Berlin e.V. (explizit
im DVZ-Archiv).
Allerdings nicht online; eine Terminvereinbarung ist
erforderlich (derzeit über Ulli
Jentsch).
Literatur:
-
Delarue,
Jaques: Trafics et Crimes sous l' occupation.
-
Le
massacre d'oradour, 10 juin 1944 - qui était raspoutine - les péripéties
du sacre de napoléon. Historama. 1975.
-
Pauchou,
Guy et Dr Masfrand, Pierre: Oradour- sur - glane - vision dépouvante.
Charles - Lavauzelle, 1970.
-
Georges,
Mouret: Oradour le crime le procès. 1958.
-
Paris
Match N° 206: Après le verdict d'oradour, l'alsace meurtrie. - 5 ans
au thibet par harrer. 1953.
-
Paris
Match N° 201: Procès d'oradour à bordeaux. 1953.
-
SRCGE
(Pauchou, Guy): Oradour-sur-Glane. 1967.
-
Fouché,
Jean-Jacques: Oradour. 2001.
-
Fouché,
Jean-Jacques: Décéption des trémoins.
-
Dokumente
zur Kriegsgeschichte. Feindliche Verbrechen in Frankreich, Oradour an
der Glane, Archiv der Ermittlungsstelle für feindliche Keigsverbrechen.
-
Kruuse,
Jens: Oradour. Frankfurt a.M. 1969.
-
Stitzer,
Karl: Mordprozess Oradour. Berlin 1954.
-
Moisel,
Claudia: Frankreich und die deutschen Kriegsverbrecher. Wallstein, April
2004. ISBN: 3892447497
-
Farmer,
Sarah Bennett: Oradour-sur-Glane. Village martyr in the landscape of
memory 1944-1991. Ann Arbor 1992.
-
Jäckel,
Eberhard: Frankreich in Hitlers Europa. Deutsche Verl.-Anst. 1966.
-
Przybylski
/ Busse: Mörder von Oradour. Berlin 1984.
-
Graf,
Martin / Herve, Florence: Oradour. Regards au-dela de l'oubli - Blicke
gegen das Vergessen. Klartext-Vlg., Essen, 2002.
-
Rosh,
Lea / Schwar, Günther: Steidl Taschenbücher, Nr.5, Der letzte Tag von
Oradour. 1992.
-
Staatsanwaltschaft
Dortmund: Aktenzeichen 45 Js 2/62 und 45 Js 11/78.
-
Bundesarchiv
BA, B 136/4917.
-
Staatsarchiv
StAM 45 Js 2/62.
Relevante
Links:
Haager
Landkriegsordnung in der Fassung vom 25. Januar 1910
Das
Völkerrecht im Original (Auszug aus Band I: 1883-1949)
Verbrechen
der Wehrmacht - Dimensionen des Vernichtungskrieges 1941-1944 (PDF-Datei)
Oradour-sur-Glane
10th June 1944 (englisch)
Deutsches
Historisches Museum: Oradour-sur-Glane
Das
Massaker von Oradour (der Stern am 11. Juni 2004)
Opas
Oradour: In Deutschland bestimmt die Version der Täter bis heute die
Darstellung des SS-Massakers.




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